Die Internationale Bauausstellung Interbau 1957
Im Sommer 1957 fand mit der Internationalen Bauausstellung Interbau in West-Berlin das größte Ausstellungereignis Westdeutschlands der 1950er Jahre statt. Vom Senat West-Berlins organisiert und von der Bundesregierung gefördert, stand die Bauausstellung unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Theodor Heuss. Neben der unmittelbaren Bedeutung für den Wiederaufbau des Hansaviertels und Westberlins besaß die Interbau auch Relevanz für die generelle Diskussion um den Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte in Westdeutschland. Zudem galt sie im Rahmen der Systemauseinandersetzung mit der DDR, dem anderen deutschen Staat, als Modell einer westlich orientierten demokratischen Stadtstruktur.
Die Bauausstellung war eine Schau der Superlative. In ihrem Zentrum stand der Neubau eines ganzen Stadtviertels, was in dieser Größenordnung nie zuvor Gegenstand einer Ausstellung war. Im weitgehend kriegszerstörten Hansaviertel wurden auf 25 ha etwa 1300 Wohneinheiten, eine Bücherei, zwei Kirchen, eine Kindertagesstätte, eine Grundschule und ein Einkaufszentrum neu errichtet. Mehr als 50 prominente Architekten aus 14 Ländern entwarfen teils in Arbeitsgemeinschaften ein Gebäude. Die seinerzeit entstandenen Bauten stellen als Stadtlandschaft ein lockeres Ensemble dar und sind von großzügig bemessenen Grünflächen durchzogen, die von zehn nationalen und internationalen Landschaftsarchitekten geplant wurden. Eine Vielzahl an Länderpavillons und Begleitveranstaltungen vertieften während der Bauausstellung verschiedene Themenbereiche des Städtebaus, des Wohnens und des zeitgemäßen öffentlichen Lebens. Die Interbau konnte 1,3 Millionen Besucher verzeichnen, davon kamen 36% aus Ostberlin und aus anderen Teilen der DDR sowie aus den Ostblockstaaten.
Warum plante der Senat in den 1950er Jahren solch eine große Bauausstellung?
Mit der Organisation der Bauausstellung Interbau reagierte der West-Berliner Senat auf verschiedene Probleme der Stadt. Hier ist zunächst der sehr hohe Zerstörungsgrad Berlins nach dem Zweiten Weltkrieg und die daraus resultierende enorme Wohnungsnot zu nennen. Während in Westdeutschland der Aufbau der Städte mit Hilfe der Gelder aus dem Marshallplan voran ging, war in West-Berlin der Wiederaufbau durch die schwierige politische Situation ins Stocken geraten. West-Berlin hatte seine Hauptstadtfunktionen an Bonn verloren und war durch seine Insellage im Staatsgebiet der DDR ins Hintertreffen gelangt. Die Stadt war von seinen Zulieferer- und Absatzmärkten im Hinterland abgeschnitten. Wegen der unsicheren politischen Lage wanderten viele Betriebe von West-Berlin nach Westdeutschland ab. Der Senat befürchtete die wirtschaftliche, politische und kulturelle Marginalisierung der Stadt.
1951 formulierte der Westberliner Senat die Idee, West-Berlin mit einem großen Ausstellungsereignis in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit zu rücken. In einer ersten Ankündigung einer „großen deutschen Bauausstellung“ in Berlin äußerte der West-Berliner Senatsbaudirektor Ludwig Lemmer, dass mit der Ausstellung „die Constructa in Hannover noch übertroffen“ werden sollte. (1) Diese 1951 in Hannover abgehaltene Bauausstellung thematisierte den Wiederaufbau und den Wohnungsbau im Nachkriegsdeutschland und hatte große öffentliche Beachtung erfahren. Bereits in einem der ersten Exposés zur Interbau wurde die Ausstellung auch mit der Hauptstadtfrage verbunden: „Berlin, ein Vorposten Europas, zeigt seinen Aufbau als eine westliche Hauptstadt in der Internationalen Bauausstellung 1955“. (2) Mehrfach brachte der West-Berliner Senat in den Bundestagsausschuss für Gesamtdeutsche Fragen den Vorschlag ein, einen Hauptstadtwettbewerb mit der Bauausstellung zu koppeln, was schließlich 1957 auch geschah. Während der Laufzeit der Interbau wurden im Berlin-Pavillon die Ausschreibungsunterlagen für diesen bedeutenden Wettbewerb präsentiert. Auch die in West-Berlin weitgehend brachliegende Wirtschaft sollte durch das zu entwickelnde Projekt in Schwung gebracht werden. Bereits 1950 hatte Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard die Organisation einer jährlich abzuhaltenden Deutschen Industrieausstellung in West-Berlin als „Schaufenster der Wirtschaft“ (3) veranlasst. Diese auch von hoher Beteiligung ausländischer Aussteller getragene Produkt- und Leistungsschau brachte der Teilstadt neben einem wirtschaftlichen Aufschwung auch nationales und internationales Ansehen. Der West-Berliner Senat synchronisierte die Interbau mit einer groß angelegten Industrieausstellung, die mit ihrem thematischen Schwerpunkt der Bauwirtschaft im September 1957 sehr publikumswirksam auf dem Messegelände abgehalten wurde.
Eine weitere wichtige Intention der Interbau war eine Stellungnahme zu den Baumaßnahmen im Ostteil der Stadt. In der DDR war Ost-Berlin zur Hauptstadt des jungen Staates und deren Wiederaufbau als Teil des Nationalen Aufbauprogramms zur Staataufgabe erklärt worden. Ab 1951 startete an der Stalinallee ein groß angelegtes Wohnbauprogramm, das als ästhetische und politische Versinnbildlichung der Leistungsfähigkeit des politischen Systems galt. Der West-Berliner Bausenator Karl Mahler stellte in seiner ersten öffentlichen Stellungnahme zur Interbau einen deutlichen Bezug zur Stalinallee her: Die Interbau sei „ein klares Bekenntnis zur westlichen Welt. Sie soll zeigen, was wir unter modernem Städtebau und anständigem Wohnbau verstehen, im Gegensatz zum falschen Prunk der Stalinallee“. (4) Die Interbau wurde so zu einem Paradebeispiel für den Wiederaufbau der westlichen Welt und als „Schaufenster des Westens“ symbolisch aufgeladen.
Planungen in Ost-Berlin: Der erste Abschnitt der Stalinallee 1951–1954
Nach der Gründung der DDR im Oktober 1949 strebte die politische Führung an, den neuen Staat deutlich sichtbar im sogenannten Ostblock zu verankern. Deshalb orientierte sich das Politbüro der DDR an den in der Sowjetunion vertretenen städtebaulichen und architektonischen Richtlinien. Richtungsweisend hierfür wurden Die sechzehn Grundsätze des Städtebaues, die der Bauminister der DDR Lothar Bolz 1951 veröffentlichte. Sie besagten, dass Architektur fortan dem „Inhalt nach demokratisch und der Form nach national sein solle“. Zudem stellten sie klar, dass „die Frage, ob eine Stadt kompakt oder dezentralisiert“ geplant werden solle, nun zugunsten der „kompakten Stadt“ (5) entschieden sei. Dies bedeutete eine klare Abkehr von dem bis dahin vertretenen städtebaulichen Leitbild der aufgelockerten und gegliederten Stadt. Die Architektur der Internationalen Moderne wurde nun als kosmopolitisch, national entwurzelnd und menschenunwürdig bezeichnet.
Der Ausbau Ost-Berlins zur Hauptstadt der DDR wurde anhand eines groß angelegten Wohnbauprojekts vorangetrieben. Im Rahmen des Nationalen Aufbauprogramms der DDR schrieb der Magistrat im Sommer 1951 einen städtebaulichen Wettbewerb für die Stalinallee aus. Im Plan des Wettbewerbssieger Egon Hartmann wirkten sich die 16 Grundsätze des Städtebaus und ihre Forderungen nach einer „kompakten Stadt“ deutlich aus: Er zeigt einen durch vielgeschossige Wohnbauten gefassten Straßenraum mit Vor- und Rücksprüngen und verschiedenen Platzfolgen. Nach mehreren kleineren Umarbeitungen mit einem Planungskollektiv entstand in der Stalinallee eine Magistrale auch für Fließ- und Standdemonstrationen, die als breite Allee wie ein Boulevard anmutet. Der Strausberger Platz und das Frankfurter Tor bilden zwei weite, repräsentative Schmuckplätze, die von Hochhäusern akzentuiert und vom Verkehr der Automobile umtost werden. Die Bauten zeigten in ihrer Gliederung durch Risalite, Torsituationen mit Säulen und Gebälk sowie Gesimsen deutlichen Anklang an die historisierende, klassizistische Architektur des sozialistischen Realismus. Für dessen Berliner Ausprägung hatte der Architekt Hermann Henselmann mit dem Hochhaus an der Weberwiese 1951 einen Prototyp der Architektur der DDR entworfen. Für die geforderte Orientierung an nationalen Bautraditionen wählte er vornehmlich die Architektur von Friedrich Schinkel. Die Wohnbauten an der Stalinallee wurden bewusst in Mischnutzung konzipiert: In den Erdgeschossen befanden sich Ladengeschäfte, in den oberen Geschossen Wohnungen. Der Wiederaufbau an der Stalinallee als „kompakte Stadt“ und in historisierender Formensprache wurde im Westen als rückwärts weisend abgelehnt und die Architektur als Zuckerbäckerstil bezeichnet.
Der Weg zu einem neuen Hansaviertel: Die Planung der Interbau
Ab November 1952 konkretisierten sich die Planungen für die Bauausstellung, als Karl Mahler den bekannten Ausstellungsorganisator Albert Wischek beauftragte, ein Konzept zu erarbeiten. Der Auftrag an Wischek sah dabei bereits den Wiederaufbau des Hansaviertels als Inhalt der Ausstellung vor. Dass die Wahl auf das Hansaviertel fiel, hatte zum einen mit dessen starker Zerstörung während des Zweiten Weltkrieges zu tun. Zum anderen bot das Viertel durch seine zentrale Lage am Tiergarten und seine leistungsfähige Erschließung durch die S-Bahn gute Voraussetzungen für eine große Veranstaltung.
Im Juni 1953 schrieb der Senat schließlich einen Ideenwettbewerb für den Wiederaufbau des Hansa-Viertels aus. Die eingereichten Entwürfe sollten Beispiele für eine moderne Großstadt unter völliger Abkehr von den Planungsgrundsätzen der Kaiserzeit präsentieren. So mussten die Wettbewerbsteilnehmer keine Rücksicht auf die teilweise noch vorhandenen, jedoch beschädigten Häuser des alten Hansaviertels nehmen. (6) Das Preisgericht wählte schließlich aus den 98 Einsendungen den Entwurf von Gerhard Jobst und Willy Kreuer aus, die diesen mit Wilhelm Schließer erarbeitet hatten. Die Architekten lösten die kaiserzeitliche Blockrandbebauung, die Abriegelung des Viertels zum Tiergarten und die bisherige Straßenführung mit der zentralen Sternkreuzung auf. Zehngeschossige Scheibenhochhäuser bildeten zwei Buchten, eine nördlich und eine südlich der Altonaer Straße, welche sich zum Tiergarten hin öffneten. Diese Wohnbauten standen laut Gerhard Jobst „in natürlicher Lage (…) ähnlich zueinander wie Menschen, die sich unterhaltend zueinander wenden“. (7) Das Preisgericht lobte an diesem Entwurf besonders die „räumlichen Beziehungen, die die Grünflächen des Tiergartens in das Wohngebiet hineinziehen“. (8) Zudem führten die Architekten eine Hierarchisierung der Straßen ein. Die Klopstockstraße wurde als Erschließungsstraße in geschwungene Teilstücke zerlegt und die von Nord nach Süd verlaufende Lessingstraße stillgelegt. Die Altonaer Straße blieb laut den Vorgaben des Ideenwettbewerbs in ihrer Lage unverändert, weshalb sie das Gebiet zerschnitt.
Weder in der Ausschreibung des Wettbewerbs noch in den Erwägungen des Preisgerichts wurde das Vorhaben berücksichtigt, auf diesem Gelände eine Bauausstellung durchzuführen. Gleichwohl stand für den West-Berliner Senat bereits fest, dass viele verschiedene Architekten unterschiedliche Wohnbautypen errichten sollten. Genau dies war jedoch mit den gleich gestalteten Scheibenhochhäusern des Siegerentwurfes und ihrer Einordnung in die beiden Buchten als städtebauliche Gesamtform schwer umzusetzen. Nun begann eine lange Phase der Anpassung des Siegerentwurfes, die – nicht ohne erhebliche Auseinandersetzungen – mit den an der Planung Beteiligten vonstatten ging. Der Senat wandte sich in dieser Situation schließlich an den prominenten Architekten und Präsidenten des Bundes Deutscher Architekten, Otto Bartning. Er wurde gebeten, den Vorsitz des Leitenden Ausschusses zur Vorbereitung der Bauausstellung zu übernehmen. Bartning moderierte in der Folgezeit die weiteren Umplanungen des Lageplans des Hansaviertels und brachte die Bauausstellung erfolgreich voran. Für die schwierige und langwierige Aufgabe der Neuregelung der Bodenbesitzverhältnisse gründete der Senat im Dezember 1954 eine Aktiengesellschaft (AG) für den Aufbau des Hansaviertels. Denn die neue städtebauliche Struktur des Hansaviertels erforderte die Zusammenlegung der bisherigen 159 Einzelparzellen zu 20 Parzellen für Großbauten und von 50 Grundstücken für Einfamilienhäuser. Tatsächlich gelang es der Stadt und der AG fast alle Grundstücke aufzukaufen, wenngleich 14 Besitzer enteignet wurden. (9)
Schließlich konnte im Juli 1955 der endgültige Lageplan des Hansaviertels verabschiedet werden, der dem tatsächlich gebauten Hansaviertel weitgehend entsprach. Letztendlich sind im Hansaviertel verschiedene Bautypen vertreten: Punkthochhäuser und viergeschossige Wohnzeilen säumen den S-Bahn-Bogen. Ihnen gegenüber bilden die acht- bis neungeschossigen Scheibenhochhäuser von Walter Gropius, Pierre Vago, Alvar Aalto, Oscar Niemeyer und Egon Eiermann platzartige Situationen und Ausbuchtungen. In der Mitte des Gebiets befindet sich – von der Altonaer Straße durchquert – der Hansaplatz, den im Osten in lockerer Anordnung die Wohnbauten von Eiermann und Niemeyer umgeben. Den Platz säumen im Norden das Einkaufszentrum mit ehemaligem Kino und ihm gegenüber die katholische Kirche St. Ansgar. Die Bibliothek von Werner Düttmann bildet gemeinsam mit den hohen Wohnscheiben von Sten Samuelson und Fritz Jaenecke sowie von Alvar Aalto den südlichen Teil des Hansaplatzes. Flachere Atrium- und Winkelhäuser bilden als Teppich-Siedlung den Übergang zum Tiergarten.
Die städtebauliche Konzeption des Hansaviertels orientiert sich deutlich an dem Leitbild der gegliederten und aufgelockerten Stadt, das in der Nachkriegszeit als Verkörperung fortschrittlichen Städtebaus verstanden wurde. (10) Dabei waren diese Planungsprinzipien jedoch schon wesentlich älter und bereits in der Zwischenkriegszeit und während des Dritten Reichs als Gegenbild zur verdichteten Stadt der 19. Jahrhunderts gefordert worden. (11) Jedoch sahen erst nach 1945 viele Stadtplaner und Architekten die Chance gekommen, die Mängel der kaiserzeitlich geprägten „steinernen Städte“ durch die aufgelockerte und durchgrünte Stadtstruktur zu beheben. So erläuterte Hans Scharoun 1946, der im Mai 1945 als Leiter der Abteilung Bau- und Wohnungswesen für Gesamt-Berlin eingesetzt worden war: „Was bleibt, nachdem Bombenangriffe und Endkampf eine mechanische Auflockerung vollzogen, gibt uns die Möglichkeit eine Stadtlandschaft zu gestalten“. (12) Im Zuge dessen ließ sich auch die Trennung der stadträumlichen Funktionen (Wohnen, Arbeiten, Verkehr, Erholung) umsetzen, welche 1933 in der Charta von Athen niedergelegt worden waren und welche für den Aufbau in Skandinavien, London und Deutschland den Planungen zugrunde gelegt wurden.
Als an einem sonnigen Tag, dem 6. Juli 1957, die Interbau mit großen Feierlichkeiten eröffnet wurde, war erst etwa ein Drittel der Bauten fertiggestellt. Die restlichen Bauten folgten bis Anfang der 1960er Jahre. Infostände erklärten die Entwurfskonzeptionen, Musterwohnungen waren mit zeitgemäßen Möbeln eingerichtet und konnten besichtigt werden. Ein Schaukran und ein Sessellift erlaubten den Besuchern ungewöhnliche Aussichten auf das Ausstellungsgelände. Eine Vielzahl an Begleitausstellungen und in- und ausländischen Sonderschauen informierte die Besucher über internationale und nationale Stadtentwicklung und Wohnkultur. Sogar unterirdisch wurden Veranstaltungen angeboten: Im U-Bahn-Tunnel zwischen den Bahnhöfen Hansaplatz und Zoo konnte das Publikum preisgekrönte Karikaturen zum Thema „Verkehrssündenfall“ studieren, die es – in einem VW-Bähnchen sitzend – passierte. Neben den Gebäuden der Bauausstellung erwies sich auch der temporäre Pavillon mit der Sonderschau die stadt von morgen als besonderer Besuchermagnet.
Dr. Sandra Wagner-Conzelmann