Von den „Schöneberger Wiesen“ zum vornehmen Wohngebiet
Mit dem Hansaviertel hatte der West-Berliner Senat ein Demonstrationsgebiet der Bauausstellung Interbau gewählt, das eine für Berlin typische bauliche Entwicklung erlebt hatte. Im ausgehenden 18. Jahrhundert noch als „Schöneberger Wiesen“ ein unbebautes Überschwemmungsgebiet, verdichtete sich das Viertel im 19. Jahrhundert rasch zu einem städtischen Wohngebiet. Als Folge von Industrialisierung und Urbanisierung wuchs die Einwohnerzahl Berlins rasant: 1824 zählte die Stadt noch 220.000 Einwohner, 1875 bereits fast eine Million und am Ende des 19. Jahrhunderts bereits 2,7 Millionen. Der resultierenden Wohnungsnot wurde durch den Bau von Mietshäusern begegnet, die zunächst aus einem Vorderhaus mit Seitenflügeln und einem Hinterhaus bestanden und in Etagenwohnungen aufgeteilt wurden, wie dies im Musterbuch des Landbaumeisters Gustav Assmann 1862 empfohlen wurde. (1) Von Assmann nicht vorhergesehen war die durch die Wohnungsnot und die Bodenspekulation vorangetriebene Verdichtung der Bebauung. Für Arbeiter und Geringverdiener wurden Hinterhäuser mit bis zu sieben Höfen aneinandergereiht. Es entstanden dunkle, kleine und schlecht belüftete Wohnungen, die um ein Vielfaches überbelegt waren. Diese sogenannten Mietskasernen wurden bereits in ihrer Entstehungsphase, vor allem ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, zum Feindbild von Architekten und Städtebauern.
Parallel zu den hochverdichteten Arbeitervierteln entwickelten sich auch Wohnformen für die besser situierten Bevölkerungsschichten. Befeuert vom steigenden Wohlstand großer Teile des Bürgertums wuchsen zum einen neue Villenkolonien am Rande der Großstädte. In Grunewald und Lichterfelde und ab den 1890er Jahren in Berlin-Dahlem entstanden Gebiete mit freistehenden großzügig bemessenen Wohnhäusern. Zum anderen wurden auch innerstädtisch Wohngebiete für wohlsituierte Bürger erschlossen. Von diesem bürgerlichen Bauboom wurde ebenfalls das Hansaviertel ergriffen. Hier begann nach der Reichsgründung 1874 die Berlin-Hamburger Immobilien-Gesellschaft mit der Erschließung des Gebiets und erstellte einen durch eine Königliche Ordre vom 21. März 1874 bestätigten Bebauungsplan. Diese Ordre gilt als Gründungsurkunde des Hansaviertels. (2) Der Plan sieht bereits die Kreuzung von drei Hauptstraßen in einem Sternplatz vor, der 1879 in Erinnerung an die Berlin-Hamburger Immobilien-Gesellschaft und an Berlins Hansetradition „Hansaplatz“ genannt wurde. In der Folgezeit wurde das gesamte Wohnviertel als „Hansaplatz-Bezirk Nr. 211“ (3) und schließlich als „Hansaviertel“ geführt.
Die 1877–1882 errichtete Stadtbahn schloss das Viertel an die Innenstadt an und teilte es in einen nordöstlichen und einen südwestlichen Bereich. Innerhalb der so entstandenen städtebaulichen Grundstruktur ging die bauliche Entwicklung rasant voran: Auf langen und schmalen Parzellen erstellten viele prominente Architekten Berlins – unter ihnen der Erbauer des Warenhauses Wertheim (1896–1906) Alfred Messel und der Hofbaurat Ernst von Ihne, der auch das Bode-Museum (1897–1904) und die Staatsbibliothek (1908–1914) errichtet hatte (4) – in Straßenrandbebauung repräsentative, aneinandergebaute Wohnhäuser mit kleinen Vorgärten. Sie waren typischerweise durch Vorderhaus und Hinterhäuser mit den entsprechenden Innenhöfen gegliedert. In den Tiefparterres der Wohnhäuser siedelten sich auch teils Geschäfte an. Die Vorderhäuser, die entsprechend der Königlichen Ordre von 1874 einer Beschränkung ihrer Geschosszahl auf ein Erdgeschoss und nur zwei Obergeschosse unterlagen, waren durch Erker, Türmchen, Giebel und Balkone lebhaft gestaltet und bildeten ein repräsentatives Straßenbild. Aufwendig komponierte Fassaden zeigten im Stil des Historismus und Eklektizismus eine Kombination von historischen Stilzitaten wie Säulen, Gesimsen und Friesbändern, die teilweise auch mit Fachwerk zusammengefügt waren. Auch die Fassaden im Neobarock und in Neorenaissance sollten dem Repräsentationsbedürfnis und dem Standesbewusstsein der Bewohner gerecht werden. Die Wohnbebauung war städtebaulich klar vom sich anschließenden Tiergarten abgegrenzt, der nur für die Freizeitgestaltung genutzt wurde.
Die Bebauung des Hansaviertels war in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts weitgehend abgeschlossen. 1895 wurde die Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche als Votivkirche für den im Jahre 1888 verstorbenen Friedrich III. eingeweiht. Für die katholische Gemeinde wurde 1926 eine Remise auf dem Grundstück Altonaer Straße 22 zu einer Kapelle umgebaut und dem Heiligen Ansgar gewidmet.(5)
Ein Beispiel bürgerlichen Wohnens zeigte das Wohnhaus in der Klopstockstraße 22. Hier befanden sich im Vorderhaus zwei Neun-Zimmer-Wohnungen, die über je einen Seitenflügel bis in das Zwischenhaus und bis an den zweiten Innenhof reichten. Von der Gebäudemitte im Vorderhaus erschlossen, befanden sich die repräsentativen Räume des Boudoirs, des Wohnzimmers und des Salons direkt hinter der aufwändig gestalteten Fassade und wiesen zur Straße. Die kleineren Räume für die Versorgung und die des Personals hingegen befanden sich im hinteren Bereich der Wohnung. Jede Wohnung besaß ein sogenanntes Berliner Zimmer, das relativ groß, aber nur mit einem Fenster zum Innenhof ausgestattet und deshalb häufig stickig und dunkel war. Diese Zimmer wurden meist als Durchgangszimmer oder Speisezimmer genutzt. Zudem wiesen die Wohnungen den typischen langen, innenliegenden und deshalb dunklen Flur auf. Im Hinterhaus am zweiten Gartenhof befanden sich je zwei Fünf-Zimmer-Wohnungen für die etwas bescheideneren Ansprüche. Auch hier galt wie in den Mietskasernen: Je weiter hinten die Wohnung lag, umso weniger komfortabel war diese geschnitten und umso niedriger war der Wohnkomfort.
Bewohner im Hansaviertel
Während der Kaiserzeit und der Weimarer Republik gehörte das Hansaviertel zu den „Wohngegenden anspruchsvoller Leute“. (6) Kaufleute, Bankiers und andere vermögende Bürger sowie Staatsbeamte und Künstler, die die zu Ateliers umgebauten Dachgeschosse nutzten, siedelten sich an. Zu den bekanntesten Bewohnern des alten Hansaviertels zählten der Maler Lovis Corinth (1858–1925) und der Grafiker Hermann Struck (1876–1944), die Lyrikerin Nelly Sachs (1891–1970) und die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869–1945), der Erbauer des Berliner Doms Julius Raschdorff (1823–1914), die Bankiers K. v.d. Heydt und K. Ländsberg und für kurze Zeit auch Rosa Luxemburg (1870–1919) sowie ihre Sekretärin Mathilde Jacob (1873–1943). (7)
Siehe auch: Prominente Anwohner
Bemerkenswert hoch war der Anteil der jüdischen Einwohner. In den zwanziger Jahren betrug er mit ca. 8 % fast das Doppelte des jüdischen Anteils an der Gesamtbevölkerung Berlins. Etwa 10 % der Häuser des Hansaviertels befanden sich in jüdischem Eigentum. Im Hansaviertel wurden zwei Synagogen gebaut. Sie befanden sich an der Ecke Lessing-/Flensburger Straße und am Spreeufer in Siegmunds Hof. In Reichweite, an der Levetzowstraße, stand eine weitere Synagoge, die zahlreiche Juden des Hansaviertels aufsuchten. (8)
Dr. Sandra Wagner-Conzelmann